Andreas Pils · Antisemitismus · Hagen Westfalen · Nazi Kriegsverbrechen · Niederlande/Belgien

HAGEN XII : Herbertus Bikker

Herbertus Bikker ist einer von drei Männern, die  nicht in Hagen geboren wurden, zwei in den Niederlanden und einer in Belgien, aber alle dort  oder in der nahen Umgebung starben, und das ist wahrscheinlich kein Zufall.

HERBERTUS BIKKER (1915-2008) stammt aus der kleinen holländischen Gemeinde Alblasserwaard in der Nähe von Dodrecht/Rotterdam in Südholland. Er starb am 1. November 2008 in der kleinen deutschen Stadt Hagen, im Ortsteil Haspe, in dem bis zum Jahre 1995 die Andreas Brauerei Pils produziert hatte.

image
Freiwillige der SS-Standarte „Nordwest“

Der gebürtige Holländer Bikker verschied als deutscher Staatsbürger und das hatte gute Gründe. Im Jahre 1939,  12 Monate vor dem deutschen Überfall auf die Niederlande trat Bikker der NSB (Nationaal Socialistische Beweging) bei, dem niederländischen Ableger der NSDAP unter ihrem „Leider“ Anton Mussert, und während der Invasion im Mai 1940 saß er auf Grund seiner politischen Sympathien in einem holländischen Gefängnis, aus dem er erst von der deutschen Wehrmacht befreit werden konnte. Kurz danach trat er als Freiwilliger einer Einheit der Waffen-SS bei, der SS-Freiwilligen Standarte „Nordwest“, einer Truppe , die aus NSBlern und flämischen Nationalsozialisten zusammengesetzt war.  Die „Nordwest“ ging in der SS-Freiwilligen Legion Niederlande unter, die 1942 an die Ostfront kommandiert wurde, wo sie auch an der Belagerung Leningrads teilnahm und große Verluste verzeichnete, untere anderen auch Herbertus Bikker.  Der wurde so schwer verwundet, dass er zur Genesung nach Hause geschickt und dort als „front-untauglig“ befunden wurde. Damit seine Talente nicht im Nichstun verkommen würden, wurde Bikker im kleinen Städtchen Ommen bei Zwolle von der deutschen Besatzungsmacht zum Polizisten umgeschult und als solcher zum nahegelegenen Arbeitseinsatzlager „Kamp Erika“ abkommandiert.

barakken-in-kamp-erica-in-ommen
Kamp Erika in Ommen

Das Straflager „Erika“ war im Sommer 1942 errichtet worden, um die überquellenden holländischen Gefängnisse zu entlasten. Es beherbergte zunächst „Klein-kriminelle“, die auf irgendeine Art und Weise gegen die Verordnungen der deutschen Besatzer verstoßen hatten, seit 1944 aber hauptsächlich niederländische Widerstandskämpfer und eine kleine Anzahl Juden. (Die meisten holländischen Juden wurden im Durchgangslager Westerbork interniert, bevor sie in die Vernichtungslager von Auschwitz geschickt wurden, von den 107000 holländischen Juden, die durch Westerbork gingen, überlebten 5000.) Das Strafkamp Erika durchliefen in den drei Jahren seines Bestehens ungefähr 3000 Gefangene, von denen 170 ums Leben kamen. Zur letzteren Ziffer wird auch Bikker nicht unerheblich beigetragen haben, in einem Lager, das ohnehin schon durch die Brutalität seines Wachpersonals berüchtigt war, stand Herbertus Bikker noch soweit heraus, dass er von den Häftlingen den Beinamen „Beul van Ommen“, der Henker von Ommen, erhielt. Unter seinen Opfern war auch der niederländische Widerstandskämpfer Jan Houtmann (1917-1944) aus der Provinz Overijssel, in der auch Ommen liegt. Houtmann wurde von einem Wachkommando des Kamp Erikas während einer Razzia auf einem naheliegenden Bauernhof dabei ertappt, als er im Begriff war, eine Ladung von Gütern zu verstecken, die die Allierten mit  Fallschirmen abgeworfen hatten. Houtmann versuchte zu fliehen, wurde verfolgt von Bikker, der ihn mit einer Maschinenpistole niederschoss, und schließlich den schwerverletzten, am Boden liegenden Houtman kaltblütig ermordete.image

Nach der Befreiung der Niederlande im Mai 1945 wurde Herbertus Bikker von seinen Landsleuten festgenommen und 1949 wegen seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS, seiner Tätigkeit im Kamp Erika und wegen zweier begangener Morde zum Tode verurteilt, aber schon in zweiter Instanz zu lebenslanger Haft begnadigt. Weihnachten 1952 gelang ihm  und sechs anderen holländischen Kriegsverbrechern die Flucht aus einem Gefängnis in der Stadt Breda. Eine Organisation niederländischer Nazi Kollaborateure  hatte Stricke und Leitern besorgt und wartete  außerhalb der Gefängnismauern mit zwei Autos, die die Flüchtenden dann ohne viel Umstände über die deutsche Grenze schmuggelten. Dort meldeten sich die sieben bei der erstbesten Polizeistation, die, wie es der Zufall denn so wollte, von einem ex SS-Mann bemannt war, der sie mit Kaffee und Kuchen freundlich bewirtete. Am nächsten Morgen wurden sie alle vom zuständigen Amtsgericht wegen illegalen Grenzübertritts ohne Papiere zu zehn D-Mark Buße verurteilt, ein lächerlicher Betrag, den der freundliche Polizist gerne vorstreckte. Dann gingen die Holländer, mit einem weiteren Geldgeschenk des Wachtmeisters versehen, ihre eigenen Wege, und Bikker tauchte erst wieder ein paar Tage später an Sylvester in Hagen auf, als er versuchte auf dem dortigen Sozialamt Sozialhilfe zu beantragen und prompt wieder festgenommen wurde. Bikker verbrachte drei Jahre in Abschiebe- und Untersuchungshaft in bundesdeutschen Gefängnissen, bis ein neues Gerichtsverfahren in Dortmund wegen Mangels an Beweisen im Jahre 1957 eingestellt wurde, vor allem auf Grund bilateraler Verfahrensschwierigkeiten. Als  Angehöriger der  Waffen-SS  hatte Herbertus Bikker im Jahre 1943 per „Führererlass“ automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erworben, und konnte nun als Deutscher nach dem bundesdeutschen Grundgesetz nicht an andere Länder ausgeliefert werden. Die niederländischen Justizbehörden weigerten sich mit den deutschen zusammenzuarbeiten, weil sie, nicht ganz zu Unrecht, nicht davon überzeugt waren, dass Kriegsverbrecher in der BRD mit notwendiger Ernsthaftigkeit verfolgt wurden. Bikker wurde also auf freien Fuß gesetzt und verschwand aus dem öffentlichen Blick, und nach Hagen-Haspe. Dort, nicht weit von der Andreas Brauerei, wo schon viele alte Kameraden eine Anstellung erhalten hatten, fand er Arbeit bei der Firma Nord-West. die mit Baubedarf am südlichen Rand des Ruhrgebietes handelt.

Bikker arbeitete im Lager und als Hausmeister, und nach Feierabend als guter Deutscher in seinem Schrebergarten, wo er sich besonders als Tulpenzüchter hervortat. Bikker lebte so die nächsten vierzig Jahre relativ unauffällig in Hagens, auch von Alt-Nazis, dichtbesiedeltem Stadtteil Haspe, ohne größere Aufmerksamkeit zu erregen, von einem kleinem Zwischenfall im Jahre 1972 abgesehen, in dem ein niederländischer Journalist, eine Gartenscheune und ein Beil eine gewisse Rolle spielten. Danach verloren sogar die Holländer den „Henker von Ommen“ aus den Augen .

bikker
Herbertus Bikker

Erst Mitte der neunziger Jahre wurde der inzwischen pensionierte Bikker von einem niederländischen Reporter wiederaufgespürt, und  danach von einer Gruppe von deutsch-holländischen Demonstranten besucht, die vor seinem Haus in der Dickenbruchstraße für eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihn protestierten und mit Sprechchöre die staunenden und unwissenden Nachbarn darauf aufmerksam machte, dass in ihrer und der Schrebergärten Mitte ein Mörder weilte. Es dauerte weitere acht Jahre, bis der Kriegsverbrecher wieder vor Gericht erschien. Im Jahre 2003 began vor dem Landgericht Hagen eine neue Verhandlung gegen Bikker, die die Umstände seiner Vergehen in Ommen wiederaufrollte. Diesmal schien eine Überführung  und Verurteilung sicher: Eine Zeugin, die die Ereignisse auf dem Bauernhof mitangesehen hatte, konnte bestätigen, dass es in der Tat Herbertus Bikker gewesen war, der die tötlichen Schüsse auf Jan Houtman abgegeben hatte. Doch wieder einmal kam der „Henker von Ommen“ davon. Die Verhandlung, die klären sollte, ob Bikker einen nicht verjährbaren, Mord begangen habe und daher zu einer entsprechenden Gefängsnisstrafe zu verurteilen seie, endete in einer Saalschlacht um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten. Nach dem üblichen Austausch von ärztlichen Gutachten und Gegengutachten, entschied  das Gericht 2004 letztendlich, dass Bikker vernehmungsunfähig und nicht mehr in der Lage sei, dem Prozess zu folgen. Das Verfahren wurde eingestellt. Herbertus Bikker konnte sich noch vier weitere Jahre an seinen Tulpen erfreuen, bis er am 1. November 2008 in Hagen-Haspe starb. Ob der damals letzte noch Überlebende der alten Garde der Andreas Brauerei, Oskar Pahnke, der als ehemaliger Ausbilder von holländischen und belgischen SS-Freiwilligen, als Mitglied der SS-Nachfolgeorganisation HIAG, und als einst in den Niederlanden gesuchter Kriegsverbrecher ein besonderes Intersse gehabt haben könnte, Bikkers Prozess in Anwesenheit verfolgte, ist nicht bekannt. Dass Pahnke einen weiteren in Hagen wohnenden ehemaligen Benelux Waffen-SSler, den „letzten Ritter aus Flandern“ noch persönlich gekannt hat, steht jedoch ohne Zweifel fest.

 

 

Hinterlasse einen Kommentar