Antisemitismus · Der Professor · Hagen Westfalen

DER PROFESSOR II – Exkurs: Heinrich von Treitschke

 

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Universitaet Breslau

Diese deutsche Geschichte wird in Breslau fortgesetzt, wohin im Jahre 1912  die Familie weiter zog, In die schlesische Provinzhauptstadt also, – heute das polnische Wroclaw -, wohin unser in Greifswald noch a.o. , nun als ordentlicher Professor für evangelische Theologie an die “Schlesische Friedrich-Wilhelms Universität zu Breslau” berufen worden war. Schlesien gehörte damals den Preußen, die es zu Friedrichs des Großen Zeiten den Habsburgern, und die wiederum den Polen, und die den Litauern, und die den Ungarn,  und so ad infinitum, abgerungen hatten. Hier im deutsch-polnischen Grenzland sollte der ehemalige Pfarrer aus Erfurt seine gesamte noch verbleibende akademische Laufbahn, immerhin weitere 21 Jahre, verbringen, und hier finden wir auch die Spur des kleinen Jungen, seines Sohnes, wieder. Eine kleine Spur nur, denn alles was wir bisher wissen ist, dass der Junge in Breslau eines der zwei dortigen humanistischen Gymnasien besucht hat, entweder das “Gymnasium zu St. Maria Magdalena”, gegründet im Jahre 1267 oder das “Johannesgymnasium”, das im Jahre 1872 als konfessions-tolerante Schule eröffnet worden war, unter anderem auch deshalb, um jüdischen Schülern eine gymnasiale Ausbildung zu ermöglichen. Im letzteren wäre unser Pennäler auch  von Lehrern jüdischen Glaubens unterrichtet worden, die ein Drittel des Kollegiums ausmachten, was doch an kaiser-deutschen Schulen  auch im ausgehenden 19. Jahrhundert  noch recht ungewöhnlich war.

Exkurs: Heinrich von Treitschke – Der gewöhnliche Anti-Semitismus

Die Gründung des Johannesgymnasiums erfolgte genau ein Jahr nach der Gründung des deutschen Kaiserreiches, das letztendlich auch die deutschen Juden und ihren Glauben mit allen anderen Religionen und deren Anhängern rechtlich gleichstellen sollte. Dem Vorbild der Französischen Revolution, und dem Export der dort etablierten bürgerlichen Rechte in die von Napoléon vom mittelalterlichen Feudalismus befreiten Länder folgend, waren zwar schon im Jahre 1812 im Königreich Preußen im sogenannten “Judenedikt” die Juden als Staatsbürger anerkannt und ihnen, unter anderem, freie Wohnwahl und Gewerbefreiheit zugesichert worden. Diese unter napoleonischem Druck erfolgten Zugeständnisse wurden nach der Vertreibung der Franzosen, nach dem Wiener Kongress und der anschließenden konservativen Restauration und Repression entweder sofort zurückgenommen, oder  klammheimlich erodiert, in  Jahrzehnten, die von reaktionärer Romantik, Biedermeier und unerfüllter patriotischer Sehnsucht geprägt waren. So blieb im Besonderen die Tätigkeit im höheren Bildungswesen der deutsch-jüdischen Intelligentsia weiterhin versperrt, wie auch die Berufung ins Beamtentum und erst im Jahre 1850 wurde es den Juden auch erlaubt, nebst den angestammten Gewerben in Handel und im Finanzwesen, auch handwerkliche Berufe auszuüben. Während selbst die sonst eher noch reaktionärere Habsburger Doppelmonarchie schon im Jahre 1867 die völlige rechtliche Gleichstellung ihrer Untertanen ohne Rücksicht auf Glauben gesetzlich garantiert hatte, dauerte es im Deutschen Reich, wie gesagt, noch weitere vier Jahre bis sich Otto von Bismarck ein ähnliches Edikt, das “Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung”, von seinem Kaiser signieren ließ:  Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.”

Ob die wirkliche und völlige Emanzipation der Juden im deutschen Kaiserreich tatsächlich durch ein Gesetz zur Gleichstellung von religiösen Bekenntnissen hätte erreicht werden können, ist mehr als zweifelhaft, aber als Frage auch schon irrelevant und anachronistisch. Denn tragisch an dieser verspäteten Deklaration obrigkeitsstaatlicher Toleranz gegenüber den deutschen Juden war, dass es im Jahre 1871, wenn es um die Juden ging, schon gar nicht mehr um ihren Glauben ging. Denn schon hatte das angefangen zu gären, was sich später als mörderisches Gebräu erweisen sollte: – aus den Restanten des christlichen Antijudaismus; – aus der Anwendung darwinscher Theorien der Evolution von Pflanzen-und Tierarten auf  soziale Gruppen der Menschheit; der sogenannte „Sozial-Darwinismus“,–  aus dem entstehenden Gefühl, dass weder die rechtsstaatliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, die durch die Postulate der Aufklärung realisiert worden war, noch die ökonomische Ordnung, der Kapitalismus, die Warengesellschaft, die sich in der industriellen Revolution entfaltet hatte, ihre eigenen Glücksversprechen einhalten konnten; aus diesen drei Faktoren also war der moderne Antisemitismus entstanden, der nicht mehr den Glauben als das nicht zu entfernende Stigma, das den Juden anhaftet, identifiziert, sondern ihre Rasse.

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Heinrich von Treitschke

Der deutsche Historiker und Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke formulierte dieses Gefühl, das ein nicht präzise definierbares Unbehagen über die Natur eines immer fremder und unübersichtlicher werdenden Geflechts ökonomischer und sozialer Beziehungen ausdrückte, und dann weiter nach seinen eigenen Ursachen suchte, dieses, wie Adorno es nannte, “Gerücht über die Juden”(Theodor W. Adorno: Minima Moralia, 1951).

In einem Aufsatz, der 1879 zuerst in den “Preußischen Jahrbüchern” veröffentlicht und ein Jahr später mit anderen Schriften zu einem Büchlein mit dem Titel “Ein Wort über unser Judenthum” zusammengefasst wurde, schrieb der eminente Preuße: Über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können.” (H.v.Treitschke, Unsere Aussichten, 1879)   Als einer der prominenten Vertreter der von ihm unten beschriebenen Elite des preußischen Staates, weiß er wohl selber am besten, in welch Namen außer dem eigenen er hier spricht, wenn er die Schuldigen benennt, die das versprochene, aber sich nicht einstellende Glück der Moderne ins Unglück verkehrt haben, und wenn er somit dieses Unglück  personifiziert: Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“(H.v.Treitschke, Unsere Aussichten, 1879)

(Volltext:  Unsere Aussichten)

Diese Erklärung des Scheiterns der Moderne mit der Präsenz des Juden in seiner Wirtschaftsform vermenschlichte dieses Versagen als die Person des Juden und entmenschlichte gleichzeitig die Juden zum negativen Symbol und stellte hier die Weichen für ihre spätere Vernichtung als bloße Objekte im Lager.

Von Treitschkes Text löste den “Berliner Antisemitismus streit” aus, der die preußische akademische Elite zwar für mehrere Jahre in zwei Lager spaltete, aber im Endresultat doch eher v.Treitschkes  Anliegen nützte. Nach 1880 gewann der rassistisch motivierte, der moderne, Antisemitismus nicht nur an Popularität, sondern wurde auch zu einem gesellschaftlich akzeptierten Phänomen, das zusammen mit kolonialem Imperialismus und völkischem Patriotismus zu einer der ideologischen Grundlagen der chauvinistischen Deutsch-Nationalen der späten Kaiserzeit wurde. Organisationen wie der “Alldeutsche Verband” propagierten diesen Sozialdarwinismus, der schon lange vor Hitler die angebliche Überlegenheit der nordischen=deutschen Rasse als Legitimation für koloniale Ausbeutung und aggressive Expansionspolitik gegenüber den  Nachbarstaaten darstellten. Das Kaiserreich war nicht die einzige  Großmacht, die eine Neuausrichtung des traditionellen Antijudaismus erlebten, auch in Frankreich zeigte die Dreyfuss Affäre in 1894, dass das europäische Judentum auch im Zeitalter von Aufklärung, religiöser Toleranz und Rechtsstaat nicht vor Antisemitismus und darauf begründeter Verfolgung sicher war. Theodor Herzls Zionistische Bewegung war die direkte Antwort auf den neuen Judenhass in Europa, die in prophetischer Voraussicht als die einzige wirkliche Garantie für das Überleben des Judentums die Bildung eines wehrhaften jüdischen Staates forderte.

Ende-Exkurs

Wie der sich stets verbreitende antisemitische Wahn im Hause des ordentlichen Professors der evangelischen Theologie an der Breslauer Universität, der sicherlich zum dem von v.Treischtke erwähnten “Kreise der höchsten Bildung” zählte, rezipiert und diskutiert wurde, wissen wir nicht. Aus Gründen, die wir später darlegen werden, glauben wir nicht, dass das “Gerücht über die Juden” zum Ressentiment, und das zum Wahn wurde, in der guten Stube des Professors. Aber es standen ja im Kaiserreich auch noch andere Wahnvorstellungen zur Verfügung, denen man sich hingeben konnte. Der, zum Beispiel, ein Untertan des in den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts im Rennen um Kolonien und Absatzmärkte noch gegenüber seinen Konkurrenten zu kurz gekommene Reiches zu sein, das nun im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts endlich seinen von Gott bestimmten Platz als führende Industrienation Europas, und damit der Welt, einnehmen müsse, notfalls mit Gewalt. Es ist der Wahn von Nation und Vaterland, und die Deutschen sind wieder einmal besessen. Wir schreiben das Jahr 1914 und das deutsche Kaiserreich und seine Eliten haben ganz andere Probleme als über die Behandlung religiöser Minderheiten zu zanken. Es  gibt keine Protestanten oder Katholiken, Sozialisten oder Zentristen, Juncker oder Juden mehr, sondern nur noch Deutsche.

x3Es ist Krieg und alles wird fast ganz anders sein, wenn er vorbei ist. Noch geht das Leben in Breslau weiter. Unser Junge wird wohl morgens weiterhin zur Schule gegangen sein, als wäre nichts geschehen, und nachmittags, in die Parodie einer dunkelblauen Marineuniform gekleidet, wird er wohl mit seinen Schulkameraden Spalier gestanden und schwarz-weiß-rote Fähnchen geschwungen haben, als die preußischen Regimenter mit klingendem Spiel durch die Straßen Breslaus gen Osten und gegen die Russen zogen. In diesen Augenblicken wird er wohl auch vom patriotischen Fieber angesteckt gewesen sein, welches das ganze Kaiserreich von der Maas bis an die Memel befallen hatte, aber er war ja kaum zehn und kann so entschuldigt werden. Auch sein Vater, der Herr Professor für evangelische Theologie, wird seinen vaterländischer Wahn in aller Öffentlichkeit manifestieren, und ihm kann man nicht so einfach vergeben. Jeglichen Ansatz christlichen Pazifismus’ und Nächstenliebe, – den von der anderen Wange, die man hinhalten sollte, vermissen lassend -, setzt er seine Unterschrift unter ein Dokument, das von einem Berufskollegen, einem Berliner Professor für evangelische Theologie, verfasst worden war: ein Dokument, das vom Pathos eines martialischen Patriotismus und eines nationalen Sendungsbewusstseins nur so trieft, und auch in französischer Übersetzung nicht besser klingt:

Volltext mit Liste der Unterzeichnenden

x5Der Verfasser dieser Erklärung war Reinhold Seeberg, wie erwähnt ein evangelischer Theologieprofessor, der, abgesehen von der Urheberschaft dieses Machwerks,  dadurch in die deutsche Geschichte eingegangen ist, dass er als erster Berufstheologe die Theorie aufgestellt hatte, dass Jesus ein Arier sei, also ein Angehöriger der mythischen, blonden, blauäugigen Überrasse aus dem Norden Europas. Was solch These für die zwei anderen Mitglieder der heiligen Dreifaltigkeit beim derzeitigen Stand christlicher Dogmatik bedeutet, darüber kann hier nur in bester sektiererischer Tradition spekuliert werden.

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Professor Reinhold Seeberg

 

War Gott im 19.Jahrhundert noch einfach ein Deutscher, so wurde er im zwanzigsten dank evangelischer Bibelauslegung nun zum nordischen Herrenmenschen. Dass Seeberg ein rassistisch motivierter Antisemit war, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung und dass der Professor, der am Ende des Textes als Kontaktperson für französische Kollegen genannt wird, ebenso hauptsächlich durch seinen akademisch drapierten Antisemitismus bekannt geworden war, kommt dann kaum als Überraschung. Professor Dr. Dietrich Schäfer, ein Schüler H.v. Treitschkes (siehe oben), in jeder Bedeutung des Wortes, lehrte Geschichte an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin, wo er durch seine patriotischen, rasse-theoretischen und kriegslüsternen Tiraden zu solch nationaler Berühmtheit gelangt war, dass ihn die Nazis später als ideologischen Vordenker anerkannten und verehrten.

 

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Professr Dr. Dietrich Schaefer

Ob es die beiden Judenhasser gestört hat, dass auch deutsch-jüdische Hochschullehrer das Manifest unterzeichnet hatten, ist nicht überliefert. Aber wie gesagt, es gab ja nur noch Deutsche. Ob unser Professor, der Vater, sich bewusst war, in welch schlechter Gesellschaft sich sein Name unter der Erklärung wiederfand, muss angenommen werden, ob er die Rassentheorien eines Seebergs teilte, eher nicht. In jedem Fall demonstrieren das Manifest und die Karrieren seiner prinzipiellen Protagonisten deutlich, wie eng preußisch-deutscher Chauvinismus und rassistischer Antisemitismus verflochten waren, sich gegenseitig bedingten und erklärten, und in einem dialektischen Verhältnis bei des ersteren Niederlage des anderen Aufstieg erzeugten. Dass evangelische Theologie und ihre Theoretiker eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Prozess der Amalgation spielten, ihn geradezu ideologisch absegneten,  ist sicherlich nicht unbedeutend für den weiteren Verlauf unserer Geschichte.

Dann ist alles vorbei und beim wohlverdienten Ende des deutschen Kaiserreiches im Jahre 1918 war unser Junge, um den es ja eigentlich geht, 13 Jahre alt und ging immer noch aufs Gymnasium, und ob er dem alten Kaiser Wilhelm, der sich ins holländische Exil verdrückt hatte, eine Träne nachgeweint hat, wissen wir nicht, ist aber doch, im Anbetracht der guten Beziehungen seiner Familie zum Haus Hohenzollern, sehr wahrscheinlich. Das Reich hatte einige seiner östlichsten Provinzen an den neu geschaffenen, unabhängigen Staat Polen abtreten müssen, aber Breslau war deutsch geblieben und der Herr Vater, Professor an der Universität.

Während es nach dem Untergang des Kaiserreiches in der Republik zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kam, zwischen aufständigen Spartacisten, Kommunisten, Anarchisten und anderen sozialistischen Bewegungen auf der einen, der linken Seite, und dem der Regierung treuen Berufsheer, Deutsch-Nationalen, Freikorpisten, Proto-Faschisten und anderen paramilitärischen Banden auf der anderen, der rechten; während so in den Zentren um die politische, ökonomische und soziale Zukunft der Republik erbittert gekämpft wurde, mit Opfern hauptsächlich auf der Linken, blieb es in Breslau in der neuen Provinz Niederschlesien relativ ruhig und so absolvierte unser Junge seine sekundäre Schulausbildung recht ungestört auf einem Breslauer Humanistischem Gymnasium, um sie Anfang der berühmten Zwanziger mit der Ablegung des Abiturs abzuschließen. Als er dann auf die Uni ging,  waren die Linken geschlagen und es herrschte wieder Ordnung im Land. Die vermutlich immer noch kaisertreue Elite hatte widerspenstig ihren Eid auf die Republik geschworen, und so saßen die Beamten, waren sie Richter, Lehrer, Professoren, oder Administratoren wieder oder immer noch, auf ihren Posten und applizierten die neuen Werte des demokratischen Deutschlands ebenso widerspenstig , wenn überhaupt, auf ihren Berufsalltag. Die Professoren Schäfer und Seeberg lehrten immer noch in Berlin, und brauchten sich um den Zulauf zu ihren antisemitischen Vorträgen oder Seminaren keine Sorgen zu machen. Der rassistisch motivierte Antisemitismus war nach dem Krieg in Deutschland stärker denn je wieder erblüht, denn auf der Suche nach einem Sündenbock für die Niederlage bot sich keine Minderheit so einfach und bequem an wie die der Juden. Keine andere Deutung war möglich, als dass das Vaterland einer Verschwörung zum Opfer gefallen wäre, die nicht nur die ganze Welt gegen das Deutsche Reich zum  Kriege getrieben, sondern auch das eigene Volk gegen Kaiser und Nation aufgehetzt hatte.

In München, weit weg vom provinziellen Breslau nahe der polnischen Grenze, hatte sich inzwischen eine Partei gegründet, die ihre Politiken aus diesem Diskurs speiste.

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